Herr Koch, Herr Erbe, warum ändert der Gesetzgeber das Insolvenzrecht?
Erbe: Nach vielen Jahren des Aufschwungs erlebt die deutsche Wirtschaft aktuell eine enorm volatile Phase. Die Krisen geben sich quasi die Klinke in die Hand und die Preise für Energie und Rohstoffe kennen derzeit eigentlich nur eine Richtung – nach oben, wenn Rohstoffe und Materialien überhaupt verfügbar sind. Hinzu kommt, das sich verändernde Konsumverhalten durch die Inflation. Das führt dazu, dass das kommende Geschäft für viele Unternehmen nur noch eingeschränkt und über einen weitaus kürzeren Zeitraum als bislang planbar ist. Diesen Veränderungen versucht der Gesetzgeber dadurch Rechnung zu tragen, dass er auch die insolvenzrechtlichen Planungshorizonte angepasst beziehungsweise verkürzt hat.
Koch: Für Geschäftsführungen ist es aktuell sehr schwer zu prognostizieren, wie sich das Geschäft als auch die Preis und Verfügbarkeiten für Rohmaterial und Energie entwickeln werden. Anders als noch während der Corona-Pandemie betrifft die derzeitige wirtschaftliche Unsicherheit praktisch alle Branchen – und es ist auch nicht absehbar, wann der Krisenmodus beendet werden kann: Durch die hohe Inflation geht der Kunde nicht woanders hin, er geht nirgendwo mehr hin, da er sein Geld zusammenhalten muss. Ein Nachholeffekt wie nach der Pandemie scheint ausgeschlossen, da die Preise sehr wahrscheinlich weiter steigen werden. Insoweit ist die wirtschaftliche Unsicherheit in der Energie- und Wirtschaftskrise 2022 weitaus größer als während der Corona-Pandemie 2020.
Was bedeutet das für Unternehmen?
Koch: Unternehmen haben – gerade, wenn sie in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten – nur wenig Zeit für Verschnaufpausen und Gegenmaßnahmen. Denn die exogenen Krisen und die Eingriffe, mit denen die Politik darauf reagiert , haben die traditionelle Marktmechanismen ein Stück weit außer Kraft gesetzt. Hinzu kommt: Während es in den vergangenen Jahren aufgrund des günstig verfügbaren Kapitals für Unternehmen vergleichsweise leicht war, sich zu refinanzieren, führen tendenziell steigende Zinsen als auch die Unsicherheiten bei der Rohstoff- und Energieversorgung perspektivisch zu weiteren Belastungen.
Erbe: Unternehmen sollten eine Restrukturierung oder Sanierung besser jetzt angehen – wenn sie noch Reserven haben – als weiter abzuwarten. Es bestehen dann bessere Chancen auf einen erfolgreichen und nachhaltigen Ausgang. Denn dass sich an der herausfordernden wirtschaftlichen Gesamtsituation kurzfristig etwas ändert, ist nicht zu erwarten. Fakt ist: Auch eine Insolvenz bedeutet nicht automatisch das Ende eines Unternehmens, sondern kann vielmehr die Chance auf einen nachhaltigen Neustart darstellen. Ob mit oder ohne Insolvenzverfahren, wichtig ist das Problem eher früher als später anzugehen. Zu spät kann in diesen Zeiten das „totale Aus“ bedeuten.
Heute (9. November 2022) sind die Änderungen im Insolvenzrecht in Kraft getreten. Welche sind das?
Erbe: Mit dem Gesetz zur vorübergehenden Anpassung sanierungs- und insolvenzrechtlicher Vorschriften zur Abmilderung von Krisenfolgen, kurz SanInsKG, soll Unternehmen vor dem Hintergrund der aktuellen Energie- und Wirtschaftskrise mehr Luft verschafft werden. Der Gesetzgeber hat mit dem SansInsKG die Regeln zur Insolvenzantragspflicht wegen Überschuldung modifiziert und gleichzeitig die Voraussetzungen für die Sanierung in eigener Regie, die Eigenverwaltung und das Schutzschirmverfahren, und das vorinsolvenzliche Restrukturierungsverfahren StaRUG gelockert. Zu betonen ist: Der Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit wird durch die Änderung nicht angetastet. An der Insolvenzantragspflicht wegen Zahlungsunfähigkeit – bislang mit Abstand der häufigste Grund für Unternehmensinsolvenzen – ändert das SanInsKG nichts.
Koch: Bislang ist ein Unternehmen überschuldet, wenn sein Vermögen die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr abdeckt – es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist in den nächsten zwölf Monaten überwiegend wahrscheinlich. Man spricht dann von einer positiven Fortführungsprognose, wenn es sehr wahrscheinlich ist, dass das Unternehmen innerhalb der nächsten zwölf Monate nicht zahlungsunfähig wird – es also seine fälligen Verbindlichkeiten bedienen kann. Als wesentliche Erleichterung verkürzt das SanInsKG den maßgeblichen Prognosezeitraum bis Ende des kommenden Jahres von zwölf auf vier Monate – und das ohne Voraussetzungen wie etwa einen Nachweis, dass die Unternehmenskrise auf erhöhte Energiekosten zurückzuführen ist.
Das ist ein Unterschied zu den Änderungen im Insolvenzrecht 2020.
Koch: In der Tat. Zudem gilt die Verkürzung auch für Unternehmen, bei denen vor dem Inkrafttreten des Gesetzes bereits eine Überschuldung vorlag – aber nur, wenn sich die Unternehmen noch in der Frist befinden, innerhalb der ein Insolvenzantrag gestellt werden müsste. Das bedeutet, dass Unternehmen keinen Insolvenzantrag stellen müssen, wenn sie nicht zahlungsunfähig sind und ihr Fortbestand jedenfalls für die nächsten vier Monate überwiegend wahrscheinlich ist. Die Verkürzung ist auf jeden Fall eine Erleichterung – allerdings aus meiner Sicht nur mit Einschränkungen. Für Geschäftsführungen ist es aktuell sicher sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich, zu prognostizieren, wie sich das Geschäft innerhalb der kommenden zwölf Monate entwickeln wird. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen ist für Geschäftsführungen mitunter aber sogar bereits die Prognose der kommenden vier Monate ausgesprochen schwierig.
Der Gesetzgeber hat auch die Insolvenzantragsfrist wegen Überschuldung von gegenwärtig sechs Wochen auf acht Wochen erhöht.
Erbe: Die Verlängerung ist im Zusammenhang mit den Erleichterungen beim Zugang zu Sanierungsverfahren in einer Insolvenz, aber auch vorinsolvenzlich zu sehen. Sie soll Unternehmen mehr Zeit für Sanierungsbemühungen verschaffen, und es soll mehr Zeit dafür zur Verfügung stehen, Anträge für Sanierungsverfahren wie die Eigenverwaltung, dem Schutzschirmverfahren oder dem vorinsolvenzlichen StaRUG zu erstellen. Bei Eigenverwaltung und Schutzschirmverfahren kann sich ein Unternehmen mit Unterstützung eines Chief Restructuring Officers und unter Aufsicht eines Sachwalters in eigener Regie sanieren – oftmals über einen sogenannten Insolvenzplan. In diesen Sanierungsverfahren gibt es keinen klassischen Insolvenzverwalter. Zum 1. Januar 2021 hatte der Gesetzgeber die Zugangsvoraussetzungen zur Eigenverwaltung verschärft – insbesondere durch die sogenannte Eigenverwaltungsplanung. In ihr muss beim Antrag auf Eigenverwaltung vor allem einen Finanzplan für einen Zeitraum von – bislang – sechs Monaten aufgeführt sein. Damit soll sichergestellt werden, dass der normale Geschäftsbetrieb fortgeführt werden kann und die Kosten des Verfahrens in diesem Zeitraum gedeckt sind. Der Planungshorizont der Finanzplanung ist mit dem SanInsKG von sechs auf vier Monate herabgesetzt worden. Wie bereits von Herrn Koch erwähnt, ist aber in der aktuell hochvolatilen wirtschaftlichen Situation für Unternehmen eine Geschäfts- und damit auch Finanzplanung für die nächsten vier Monate alles andere als einfach.
Koch: Beim vorinsolvenzlichen StaRUG wird der Zugang zu einer Vollstreckungs- und Verwertungssperre durch das Gericht erleichtert. Ergeht eine solche Sperre, sind Vollstreckungstitel der Gläubiger unwirksam. Das Gleiche gilt bei Gläubigern, die Sicherheiten haben. Sie können zum Beispiel gelieferte Rohstoffen nicht mehr über einen Eigentumsvorbehalt zurückholen. Das sorgt dafür, dass das Unternehmen in einer StaRUG-Restrukturierung einen größeren finanziellen Spielraum hat und wichtige Materialien weiter nutzen kann. So wird verhindert, dass eine Restrukturierung über einen Restrukturierungsplan nach dem StaRUG an einer Vollstreckung in betriebsnotwendiges Vermögen scheitert. Um eine solche Stabilisierungsanordnung zu beantragen muss das Unternehmen aber eine valide Finanzplanung für einen Zeitraum von bislang sechs Monaten einreichen. Wie bei der Eigenverwaltungsplanung wird mit dem SanInsKG auch dieser Zeitraum auf vier Monate verkürzt.
Die Interviewpartner:
- Guido Koch: Guido Koch ist Dipl.-Kaufmann, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer bei Schultze & Braun. Zu seinen Spezialgebieten gehören neben den unterschiedlichen Themenaspekten aus der betriebswirtschaftlichen Restrukturierung und der Wirtschaftsprüfung auch die Beratung in Eigenverwaltungen und Schutzschirmverfahren.
- Dr. Jürgen Erbe: Dr. Jürgen Erbe, MBA ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht bei Schultze & Braun. Er wird im Raum Mannheim und Frankfurt an verschiedenen Gerichten bestellt und hat bereits zahlreiche Unternehmen in ihren Insolvenz-, Eigenverwaltungs- oder Schutzschirmverfahren begleitet – als Insolvenzverwalter, Sachwalter und als CRO.
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